Oktober 2024

Systemische Beratung der Gesellschaft – Wie soll das gehen?

Von Ruth Seliger

Es ist ein aberwitziger, ein größenwahnsinniger Gedanke, die Gesellschaft beraten zu wollen und das aus guten Gründen: Die Komplexität ist übergroß, wir sind selbst Teil der Gesellschaft und haben keine „professionelle Distanz“. Und, gibt es überhaupt Mehrheiten, die Transformation wollen? Aber, es ist an der Zeit!

Gesellschaft hat sich immer verändert.

Vorweg: Gesellschaften haben sich immer verändert, sich transformiert. Diese Transformationen waren keine langsamen und friedlichen Entwicklungen, sondern meistens dramatische Umbrüche mit krisenhaften und zerstörerischen Phasen. Die Auslöser für solche Transformationen waren vielfältig. Teilweise kamen die Anstöße für Veränderungen von außen, zum Beispiel durch Veränderungen der Klimabedingungen, so wie die „kleine Eiszeit“, die die Welt „aus den Angeln“ hob und die Gesellschaft aus dem Gleichgewicht brachte (1).

Viele Veränderungen der Gesellschaft wurden durch Entwicklungen der Kommunikationsmöglichkeiten wie Sprache, Schrift oder Buchdruck fundamental verändert. Die Entwicklung der digitalen Kommunikation und von KI verändert unsere Gesellschaft derzeit ebenso fundamental. Es stellt alles auf den Kopf, fast alles infrage und betrifft uns alle. (2)

Was ist der Unterschied von Optimierung, Change und Transformation?

In der systemischen Beratung wird unterschieden zwischen

  • Veränderungen Erster Ordnung – das sind Veränderungen unter gleichbleibenden Bedingungen und Mustern, also Optimierungen und
  • Veränderungen Zweiter Ordnung – das sind Veränderungen der Muster, die lebende Systeme in ihren Prozessen entwickelt haben.

Unter Transformation verstehe ich die Veränderung der Grundprinzipen und des Selbstverständnisses des Systems, die den Operations-Mustern zugrunde liegen und sie steuern: Glaubenssätze, Welt- und Menschenbilder, Sinnfragen. Transformation ist ein fundamentaler Paradigmenwechsel und verändert das System insgesamt.

Wir alle stecken in diesem Prozess der Transformation. Um darin einzugreifen, ihn mitzugestalten, braucht es eine Theorie, die selbst ein Paradigmenwechsel ist und das Zeug hat, mit hoher Komplexität umzugehen: Systemisches Denken.

Die Reise systemischen Denkens

Systemisches Denken ist ein interdisziplinäres Theoriegebäude, das im Rahmen von „Lebenswissenschaften“ wie Biologie, Anthropologie, Psychologie oder Soziologie gemeinsam entwickelt wurde. Das zentrale Interesse gilt den lebenden Systemen und baut auf Forschungen zu Kybernetik, Konstruktivismus und Systemtheorie auf.

Systemisches Denken wurde in der Praxis in unterschiedlichen Kontexten und im Rahmen von Interventionen angewendet und stetig weiterentwickelt:

  • Eine der ersten „Praktikerinnen“ war die amerikanische Psychotherapeutin Virginia Satir. Sie untersuchte und begleitete die Dynamik zwischenmenschlicher Beziehungen (3).
  • Mara Selvini Palazzoli, Mitglied der Mailänder Therapeuten-Gruppe, machte den „Sprung vom Individuum zur Familie“(4). Sie untersuchte nicht nur die Muster der Interaktionen im sozialen System „Familie“, sondern entwickelte auch Methoden der Intervention, um destruktive Muster zu verändern. Bekannt wurden die zirkulären Fragen, heute Bestandteil jedes systemischen Interventions-Methodenkoffers.
  • Mara Selvini Palazzolis Forschungen und Methoden gaben in den 90er Jahren Impulse für die Beratung von Organisationen. Interventionsrichtungen waren dabei nicht nur persönliche Beziehungen, sondern vor allem Strukturen, Prozesse und kulturelle Prinzipen, die die Muster der Kommunikation prägten. Es wurden neue Methoden entwickelt, um Veränderungen dieser Muster zu beeinflussen (5).

Systemtheoretisches Denken wurde also auf immer komplexere Systeme angewendet: vom Individuum zur Familie zur Organisation. Die Transformation der Gesellschaft ist der nächste Sprung an Komplexität.

Systemische Beratung der Gesellschaft – die größte Komplexität

Wir verfügen heute über sehr viel Expertise über die Notwendigkeit, die Themen und auch die Ziele der gesellschaftlichen Transformation. Was noch fehlt, ist Wissen über und Methoden für die Gestaltung des Weges, des Prozesses.

Auf der Grundlage systemtheoretischer Konzepte von Gesellschaft und aufbauend auf Methoden der systemischen Gestaltung von Veränderungsprozessen von Organisationsberatung – insbesondere von Führung (6) – habe ich ein Modell und ein Methodenset für eine strukturierte und wirksame Gestaltung von Transformationsprozessen und eine „Beratung der Gesellschaft“ entwickelt (7): den „Kompass für Transformation“. Er besteht aus einer Abfolge von Themen, die behandelt werden:

  • Was treibt uns an? Warum überhaupt Transformation?
  • Wohin wollen wir uns bewegen? Was ist das Bild, die Geschichte unserer Zukunft?
  • Womit können wir den schwierigen Weg gehen? Was sind unsere Ressourcen?
  • Welche nächsten Schritte können wir setzen, was sind unsere Strategien?

Der Kompass für Transformation ist ein Instrument der Kommunikation. Denn gesellschaftliche Transformation ist letzten Endes ein umfassender gesellschaftlicher Kommunikationsprozess. Dafür braucht es geeignete Rahmen, Formen und Setttings, geeignete Medien und Sprachen, vor allem aber Menschen, die sich engagieren.

Ich habe das forum:transformieren als einen solchen Rahmen entwickelt. Das Konzept beruht auf den Prinzipien und Instrumenten von Großgruppen-Verfahren (8). Die Sprache für Transformation soll zukunftsweisend und ressourcenfokussiert sein, dafür sind die Instrumente der „Positiven Psychologie“ besonders hilfreich (9). Der Ablauf des forum:transformieren ist entlang der Themen des Kompasses für Transformation gebaut. Es richtet sich an Menschen, die in einem organisatorischen Kontext an Fragen der Transformation – sei es der Gesellschaft, sei es der eigenen Organisation – aktiv sind und in ihrem Tun wirksamer werden wollen.

Systemische Beratung der Gesellschaft – welch ein Husarenstück! Es kann aber funktionieren, wenn Menschen und Organisationen an vielen Stellen ihr Wissen und Können einbringen und mit anderen teilen, und wenn es Orientierung gibt, wie der Weg aussehen könnte.

forum:transformieren: 16.+17.5.2025, Wien
„Demokratie zwischen Abbruch und Aufbruch“
www.communityforchange.at/forum-transformieren/

(1) Philipp Blom: Die Welt aus den Angeln. Carl Hanser Verlag. München 2017

(2) Vgl. Dirk Baecker: Studien zur nächsten Gesellschaft. Suhrkamp Taschenbuch Verlag. Frankfurt am Main, 2007

(3) Vgl. Virginia Satir

(4) Matteo Selvini (Hrsg.): Mara Selvinis Revolutionen. Carl Auer Verlag. Heidelberg 1992

(5) Vgl. Roswita Königsweiser & Alexander Exner: Systemisch Interventionen. Klett-Cotta Verlag. Stuttgart 1998.

(6) Ruth Seliger: das Dschungelbuch der Führung. Ein Navigationssystem für Führungskräfte. Carl Auer Verlag. Heidelberg 2023, 9. Auflage

(7) Ruth Seliger: Systemische Beratung de Gesellschaft. Strategien für die Transformation. Carl Auer Verlag.

(8) Ruth Seliger: Einführung in Großgruppen-Methoden. Carl Auer Verlag. Heidelberg.2008

(9) Ruth Seliger: Positive Leadership. Die Revolution in der Führung. Schäffer-Pöschel Verlag. Stuttgart 2014